Kunstfront
28 November 2021
Girl Behind Barred Window, Havana, Walker Evans, 1933; Image credit: Walker Evans Archive, The Metropolitan Museum of Art
Dieser Essay ist die letzte Spur eines Seminars, in dem tradierte Lehr- und Lernformate zugunsten einer etwas offeneren Gesprächsrunde aufgegeben wurden. Um dem Rhythmus der Diskussionen treu zu bleiben, um die Intensität des Austausches noch einmal aufleben zu lassen, hat sich die Seminargruppe am Ende des Semesters zur kollektiven Autorschaft eines Essays entschlossen: eines Essays, der – so hat sich das entwickelt – thematisch nur lose an die Inhalte des Seminars gekoppelt ist. Der gemeinsam verfasste Text, der Stilbrüche und Argumentationssprünge aufweist, gleichzeitig jedoch die Spuren der darin enthaltenen Stimmen verwischt, hat sich spontan zu einer Reflexion über die digitalen Rahmen seiner eigenen Existenz entwickelt. Ähnlich wie die Kunstfront eine Grenzwahrnehmung ist, ist auch diese kollektive Autorschaft das Dokument einer Zusammenarbeit, die die aktuellen, digital aufgesetzten Fronten aufbricht und neue umreißt. Somit gibt der Text etwas davon wieder, was sich in den Köpfen der Teilnehmenden, wenngleich häufig unausgesprochen, ereignete, und zwar parallel zu den Inhalten, die den Kern dieses Seminars ausmachten.
Das Seminar fand im digitalen Wintersemester 2020/21 an der Universität für angewandte Kunst in Wien statt. Geleitet wurde es von Ivana Perica.
Authored by MAGDALENA BERNHARD, CHRISTOPH BLOCHER, STELLA CHUPIK, CLAUDIA GERINGER, NORA LICKA, IVANA PERICA and ALESSANDRA SCIURELLO
Art Front
Look for the right background, start the camera. How does it look? Is the pile of clothes that I still have to iron visible in the corner? No, but that sentimental stuffed animal is. I need to look more professional. I tilt the camera a bit to the right. Fine, that’s it.
That is the space I am comfortable to show, that I can let other people gaze in, that somehow represents me. Making something visible means to offer something for other people to critique and build an idea. And my ideas will be forever tightly connected to my background by me and those who hear them from a 12” monitor. All of my backgrounds, physical – the room I show myself in – or not, the experiences of my life, I cannot escape them.
Unerwartet, unvermittelt, die Pandemie hat die Distanz – mein ewiges Rätsel und meine unabdingbare Möglichkeitsbedingung – wieder in die Sphäre des real Möglichen gerückt. Wieder beweist die Krise, wie sehr künstlerische Praktiken Teil des Systems, Teil des Problems sind. Ob ich, die Kunst, vom aktuell erzwungenen Distanzgewinn ‚profitieren‘ kann und ob mir dieser zu einem neuen, distanzierteren und – wie oft propagiert – innehaltenden Blick auf die Welt gereicht?
Mag sein: Distanz befähigt zu Kritik und ohne Krise ist auch die Kritik nicht denkbar. Ich stehe aber hier. Und frage mich. Bin ich so – als Kunstfront in ihrem Frontroom, sitting in front of the computer screen – in der Lage, den Ort der Kritik zu verkörpern?
Man sagt: In der Hochmoderne war mir ein streng eingehegtes und außergesellschaftliches Residuum des Autonomen zugewiesen. Nachher, so sagt man, sind meine eigenen Grenzen porös geworden. Manche würden sogar behaupten: sie wären gänzlich verschwunden. Nein, erwidere ich, ich bin nicht verschwunden. Ich wagte Interventionen. Die Kritiker entgegneten: ja, aber bloß punktuelle. Deine Revolutionen finden im ‘als ob’ statt, sie erschaffen nicht die ganze Welt, sondern setzen bloß Fußnoten zur vorhandenen.
Und heute: Ich muss mit erhobener Hand warten, bis der Host meine Stummschaltung aufhebt und ich sprechen darf – ich neben allen anderen Sprechweisen. Ich bin nichts Hervorragendes, nichts Hervorstechendes mehr. Segmentierend wird eine Bildschirm-Kachel nach der anderen befragt. Trotzdem behaupte ich, mich dadurch zu behaupten: wenigstens hier zu sein, präsent zu sein, meine eigene Existenz in Chiffren zu erkennen. Was werden die Kritiker dazu sagen?
Die Kritiker haben recht: Die Prophezeiung Adornos von der Entkunstung der Kunst hat sich bewahrheitet. Ich habe mich aufgelöst in einer entgrenzten Ästhetik, die die ubiquitären Kreativpraktiken der Gegenwart beflügelt. Ob ich die gerühmte, ersehnte Autonomie je mein eigenes nennen durfte, bleibt dahingestellt; jedenfalls ist es just diese vermeintliche Autonomie, die mir in den letzten Jahren, von meiner durchökonomisierten Warte aus betrachtet, begehrter denn je erschien. Denn das Versprechen von Freiheit, der ich mich jahrhundertelang verschrieb, hat sich zuletzt so sehr mit dem Grinsen des Kapitals gemein gemacht, dass mein ehemals nobles Ideal zur reinen Farce geworden ist.
In this time of virtual meeting rooms, the spatial privacy given by a university lecture room goes missing, replaced by other people’s unfamiliar objects which I find myself familiarising with. With the people I would have familiarized nonetheless among the chairs of an institutionalised space. That’s why we choose the background, tilt the camera, sit in front of a bookcase, or a curtain or a wall, hoping that the cat won’t move it too much.
The background we choose becomes our front room, the room into which other people are allowed.
As everything else, the front room is a cultural construct easy to grasp yet non-generalizable.
Dass diese Warte, hinter dem Fenster in meinem Frontroom, in dem ich sehr lange schon verweile, dass dieser Ort und die Kritik, die hinterm Glas verhallt, prekär geworden sind – auch das ist schon längst gewiss. „Die Dinge sind uns viel zu brennend auf den Leib gerückt, als dass ein neutraler Standpunkt einzunehmen noch möglich wäre.“ (Benjamin) Hundert Jahre danach stehe ich hinter dem Frontroom-Fenster und hüte meinen verletzbaren Leib. Werde neutralisiert durch erzwungene Distanznahme, durch einen Rückzug, in den ich mit Verstand und Gefühl tagaus, tagein einwillige. Wenn es schon in Benjamins Zeiten kein gesellschaftliches Außen mehr gab, wenn wir wissen, dass das Außen heute noch unmöglicher ist, besagt der Frontroom statt Autonomie Isolation, statt Rückzug Verdrängung, statt politischer Kunst Wartekunst.
Alle meine Versuche, mich aus der Rolle als Funktion am Markt zu lösen, rücken nunmehr in ein anderes Licht. Bin ich politisch und markt-kritisch, heute, in diesem Frontroom – dem Rückzugsort, der zugleich ein halbwegs geratener Auszugsort ist – in den eingezimmerten Debatten der Online-Seminare? Werde ich ertappt bei Mehrwertproduktion des Programmanbieters oder gerühmt als Trägerin des Versprechens einer enthemmten und freiräumigen Zukunft?
The front room of my parents was a room no one was allowed to use. Closed by a stained-glass door, it was clean and tidy(er), with its very uncomfortable sofa, souvenirs and other knick-knacks on mini crocheted cloths, and a big table which we never used to eat. No, not even for the holiday dinners.
The front room was not for close friends, they sat in the kitchen with us, drinking coffee and eating biscuits. Whoever eats makes crumbles. You cannot be part of something and not leave a trace of your passage, therefore eating wasn’t for the front room.
The front room was for those rare occasions when special people came to visit: distant family members you want to impress, people of lower or higher social status you want to dazzle, the priest. Therefore, the ugly baroque ceramic salt and pepper dispenser (courtesy of our cousin thrice removed), the shiny silver plates, the statue of the Virgin of Lourdes.
Jedenfalls ist es just diese vermeintliche Autonomie, die mir in den letzten Jahren, von meiner durchökonomisierten Warte aus betrachtet, begehrter denn je erschien. Denn das Versprechen von Freiheit, der ich mich jahrhundertelang verschrieb, hat sich zuletzt so sehr mit dem Grinsen des Kapitals gemein gemacht, dass mein ehemals nobles Ideal zur reinen Farce geworden ist.
Wo liegen meine Zuständigkeiten, in diesem Binnenraum, wo ich mich, eingeklemmt zwischen Privatdünkel und Öffentlichkeit, exponiert und zugleich unsichtbar, für den eingerahmten Auftritt stilisiere? Was bedeutet es, dass ich als Künst*ler*in eine öffentliche Person bin? Welche Maske setze ich heute auf? Das bin nicht ich. Meine persona, sie macht mich politisch. Wenn ich mit der Maske an die Öffentlichkeit hinaus schreite, so begründe ich damit meine Einzigartigkeit. Trete ich als Kunst in die Gestalt der Künst*ler*in ein, werde ich ein Individuum, spürbar, greifbar, hautnah erfahrbar, werde ich Person. Und nur als Handelnde und im öffentlichen Raum mit anderen.
Ist das Handeln eine Tätigkeit, die immer zwischen mehrdimensionalen Menschen stattfindet, dann bin ich jetzt auf Passivität angewiesen. In diesem Raum, der es verspricht, mich bald in die Sphäre des Politischen herauszulassen, worauf ich schon lange warte. Und warte immer noch.
Einst war meine Mission, „so zu wirken, daß keiner die Welt ignorieren und keiner in ihr sich unschuldig nennen kann“ (Sartre). Heute aber: Sartre ist entmachtet und ich bin neutralisiert. Ins Abseits gedrängt, auf Abruf eingestellt. Physische Distanz wurde rasch als soziale ausverkauft, und ich bin ohne mich geblieben.
Ich weiß, ich weiß: die Studierenden erwidern schon, das Erscheinen im politisch-öffentlichen Raum bringt erst die Entsubjektivierung mit sich. Es gibt kein Hinaustreten ohne Selbstaufgabe, kein Leben ohne Tod (Blanchot). Und ich erwidere: genau das will ich, zerfallen, verdunsten. Um uns wieder zu versammeln, kondensieren aus Verschiedenen. Mein, unser aller jetziges Erscheinen im Kommunikationsgerät – ein Erscheinen im Versteck. Es schürt Angst vor Entsubjektivierung, deshalb putzen wir uns so adrett auf. Wir: das heißt ich, aber auch die Gruppe von Menschen, die in ihrem Zoom-Seminar über mein soziales, ja mein politisches Potenzial diskutieren. Wir setzen uns. Vor den Bildschirm. Und scheinen bloß.
Die Maske, die wir uns digital aufsetzen, setzt uns von Privaträumen unserer Gedanken nicht ab, sie ermächtigt uns nicht für die Öffentlichkeit. Sie verwahrt uns in einem architektonischen und zeitlichen Dazwischen. Die Bildfaser berühren einander, wir nicht.
Man sagt: Ehemals duldete ich keine Grenzen, keine Trennung der Bereiche. Zusammen ergaben wir ein Zwischen, in dem Menschen als Personen erschienen und sprachen. Heute sagen wir: die Kunstfront ist eine Grenzwahrnehmung. Und erst morgen, nach der Überschreitung, wird die politische Kunst die bestehenden Fronten aufbrechen und neue setzen.
In its limited spatiality the front room was a construct of social diplomacy and aspirational self-representation. Every object had the function of crafting a story about my family, but mostly about the ability of my mother to keep such a room. A microcosm in itself.
Doch, ihr habt ja recht. Wir waren getrennte Bereiche, immer, seit Anbeginn der Academia wusste man sehr wohl, wer Lehrer und wer Schüler war, wer das Sagen hatte und wer die Stille suchte. Und doch würde ich sagen, heute ist es wieder anders geworden, seitdem wir uns wie Monaden, wie eine Gruppe von Kleinporträts zweidimensional beäugen. Wir sind adrett, rechtzeitig da, mit genug Grünem und abstrakten Sonnenschattenlinien im Hintergrund. Wir sehen uns, riechen uns aber nicht. Wir greifen nicht zu, geben aber vor zu begreifen. Die Opazität ist uns abhandengekommen. Wir betreiben ein Lehr-, Lern- und Diskussionsformat ohne Präzedenz. Zur Transparenz sind wir verpflichtet, damit Abläufe glatt werden und die Technik nicht stockt. Alle wissen, wo das Eingangstor war und wo der Notausstieg liegt.
Diese Sichtbarkeit unserer Sprechpositionen ermöglicht letztendlich auch Rückschlüsse und Kontextualisierung der Personen, die selbst hinter diesem Text stehen. Wir streichen es heraus: wir sind ein temporärer punktueller Autor*innenzusammenschluss, der sich in kunstuniversitärem Institutionskontext getroffen hat. Verbindend, wieder, die Frage des Verhältnisses von Politik und Ästhetik. Das In-Form-Bringen, das Zusammenfügen der Einzelteile ist der Versuch die gesamte Gruppe, die gemeinsamen Auseinandersetzungen, im Schein der Nähe des Internets, den Austausch der letzten Monate zur Sprache zu bringen. Die privilegierte Position, aus der wir sprechen, transparent zu machen erscheint unerlässlich. „Denn die einen sind im Dunkeln und die andern sind im Licht – und man siehet die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.“ (Brecht) – Nicht?
Reicht dieser Disclaimer oder ist er schon Selbstpromotion? Gegen schwarz-weiße Maltechnik: gegen die Salons, Klüngel und Cliquen von damals, und gegen die digitale Perfektionierung der geschlossenen Gesellschaft von heute. Wer hier ist, ist von hier. Wer nicht hier ist, weiß nicht einmal, dass wir hier sind. Das undurchdringliche Material aus Stein gab uns Opazität, aber auch Sichtbarkeit; die Flüssigkristalle im Glas, diese Fenster, die uns im Frontroom zeigen, sie machen Bilder von uns, aber wir bleiben im Versteck.
Heute sagen wir: die Kunstfront ist eine Grenzwahrnehmung. Und erst morgen, nach der Überschreitung, wird die politische Kunst die bestehenden Fronten aufbrechen und neue setzen.
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Nach dem Seminar, die Kamera aus, die Stimme im Off: mein altes Alleinsein. Ich schaue hinaus, ohne angeschaut zu werden. Und verlasse den Privatraum, ohne den Frontroom aufgegeben zu haben. Er dehnt sich aus, unermesslich: Ich sitze auf der Toilette und besuche eine Ausstellung in Berlin; ich spaziere im Stadtpark und diskutiere Dispositive der Hygiene am Beispiel der Steinhofkirche; ich reinige das Katzenklo und sitze in einem Vortrag über Perspektiven auf zeitgenössische Kunst. Es gibt keine kunsteigenen Räume mehr: ich bin überall. Überall alleine. Der entgrenzten Kunst sind die Adressaten ihrer eigenen Entgrenzung abhandengekommen.
Was wirklich bleibt:
Hidden behind the back door of my front room was something real. The clothes, still to be ironed, laid on the kitchen chair. The crumbles that fell off a cookie eaten between meals. The pot boiling. The half-read books on the bedside table. Both were life: the background scene that reveals itself after the background screen disappears. Only that the background screen is never penetrated by the smell of coffee cooked for the guests that previously used to linger in my parents’ front room, by that glimpse of the daily family space that was rendered visible through the sense of smell. There, the invisible was tangible. Here, behind the screen, nobody can smell my coffee.